Ich frage meinen Siebenjährigen, ob er weiß, was eine Telefonzelle ist. „Da hat man früher Telefone eingesperrt“, sagt er und lacht. In seinem Leben spielen Telefonzellen höchstens noch eine Rolle als Büchertauschbörse. Ich erinnere mich hingegen noch sehr gut an die postgelbe Telefonzelle auf meinem Schulweg. Das ein oder andere Zehnpfennigstück wurde dort einem Telefonstreich geopfert. Ich habe ewig vor der einzigen Telefonzelle weit und breit gewartet, bis ein Dauerquassler sein Telefonat beendet hat und das ein oder andere Gespräch, für das ich keine elterlichen Ohrenzeugen wollte, von einem öffentlichen Telefon aus geführt. Mittlerweile haben Telefonzellen Museumswert. Nostalgische Überbleibsel einer smartphonelosen Ära. Einigen dieser Überbleibsel haucht die Künstlerin Alexis Wood nun neues Leben ein.
Die „Goodbye Line“ – künstlerisch wertvolle Einladung zum Loslassen
Zusammen mit ihrem Partner Adam Trunell startete die in Los Angeles ein Projekt, das gleichermaßen Kunstinstallation und emotionaler Resonanzraum ist. Das Duo sucht in der Stadt und der Umgebung nach funktionstüchtigen öffentlichen Telefonen. Wo immer sie eines finden, kleben sie einen Sticker auf:
„Ja, dieses Telefon funktioniert!“
Darunter steht die Nummer: 888-808-8598 – die „Goodbye Line“. Der Anruf kostet nichts – außer vielleicht ein wenig Überwindung. Am anderen Ende wartet ein Anrufbeantworter, der mit Worten des Abschieds besprochen werden kann. Kuratiert kann man sich die Anrufe auf dem Instagramkanal der @goodbyeline anhören.
Was man zu hören bekommt, reicht von tragisch bis hoffnungsvoll. Die Nachrichten stammen von Menschen, die den Verlust eines Elternteils oder einer Beziehung betrauern. Manch einer nimmt Abschied von alten Gewohnheiten – oder auch den schönen alten Bäume, die einer neuen Wohnanlage weichen mussten.
Da ist die Mutter, die sich alleingelassen fühlt in dem Schmerz um ihr Sternenkind:
„I’m really – um – havinging trouble finding words. Last year I was two month pregnant. I lost the Baby. And I feel like everyone has forgotten about it but me. (…) I miss that Baby every day.“
Eine Frau schmiedet mit einem geliebten Verstorbenen Pläne für die gemeinsame Zeit im Jenseits:
„Hi Jim, I’m so happy to talk to you again. I miss you so terribly. You were a remarkable builder. We will meet each other in the skies and traipse off to landscape earths and suns and other worlds. You do the digging I will do the interior Design. I love you.“
Ein Mann wandelt Wut und Trauer in Vergebung und Liebe:
„For the man that killed my daddy and my stepmom in that accident. I had to forgive you. (…) And I did it for a reason. (…) I gotta say goodbye to that shit. (…) You didn’t kill my daddy on purpose. (…) And that‘s why I fought and I fought and I fought on this whole case that they don’t get to sent you to prison. And you have to leave your family like how my daddy had to leave his, you know what I mean? (…) Two wrongs don‘t make one right. I love you, bro.“
Und einer bringt es auf den Punkt:
„In life there is loss, that’s part of the Deal.“
Gegen den emotionalen Klammerreflex
Bei der Goodbye Line geht es zum einen um das, was bleibt, wenn anderes geht: unsere Stimmen, unsere Erinnerungen und die Erfahrung, dass Verlust – wenn wir ihn teilen – eine verbindende Kraft haben kann. The Goodbye Line macht deutlich, dass Trauer eine zutiefst menschliche und gemeinschaftliche Erfahrung ist. Doch Im Mittelpunkt dieses Projekts steht immer auch das Loslassen. Die Worte, die ins Leere gehen, lösen den emotionalen Klammerreflex.Wenn wir einem Säugling den Finger in die Hand legen, umschließt es ihn sofort, klammert sich fest. Auch emotional scheinen wir mit einer Art Halte-Impuls ausgestattet zu sein. Der amerikanische Psychologe Eric Klinger sagte einmal, es käme einem „psychischen Erdbeben“ gleich, sich von wichtigen Zielen, Menschen oder Orten trennen zu müssen. Wir sind darauf gepolt, Bindungen zu suchen und zu festigen und Gewohnheiten zu pflegen. Denn um neue Eindrücke zu verarbeiten, verbraucht unser Gehirn enorm viel Energie. Routinehandlungen und gewohnte Umgebungen erfordern deutlich weniger Anstrengungen. Auf Trennungen reagieren wir hingegen ähnlich intensiv wie auf körperliche Schmerzen. Die Mehrheit der Menschen fühlt sich in der Routine wohler als mit Abschied und Neuanfang.
Das bewusste Abschiednehmen ist damit wichtiger Bestandteil eines Prozesses, der uns hilft, mit der Anstrengung eines Verlustes umzugehen und uns auf neue Lebensabschnitte vorzubereiten. Abschiednehmen ermöglicht uns, Gefühle zu verarbeiten, loszulassen und neue Perspektiven zu entwickeln. Ein aktiver Abschied kann dazu führen, dass wir uns weniger hilflos und ausgeliefert, sondern vielmehr selbstwirksam erfahren. Und: Ein Abschied kann auch eine Befreiung sein – von alten Verletzungen, von Erwartungen, die uns klein halten, oder von Menschen, die uns nicht guttun.
Abschied als persönlicher Weg
Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, um Abschied zu nehmen. Nur den eigenen. Manche Abschiede gehen leicht von der Hand. Andere bleiben ein Leben lang unvollendet. Mir würden gleich mehrere Abschiede einfallen, die ich gerne nachholen würde. Doch einer begleitet mich besonders hartnäckig. Darum weiß ich genau, was ich sagen würde, wenn ich die Gelegenheit hätte:
„Es tut mir leid, dass ich dich so lange Zeit nicht besucht habe – und es dann nicht mehr konnte. Du hast so oft gefragt, wann ich mal wieder vorbeikomme. Aber da lagen so viele Kilometer zwischen uns. Und so viele Ausreden. Manchmal träume ich von dir. Und ich denke jedes Mal an dich, wenn ich einen Stift zum Zeichnen in die Hand nehme. Vor allem, wenn ich ein Profil zeichne. Oder Augen im passenden Abstand. Neulich habe ich meinem Kleinen gezeigt, wie man ein Haus mit Tiefe malt. Vielleicht hattest du es mit den Jahren vergessen, aber ich weiß noch genau, wie du mir das beigebracht hast. Ich halte das Bild mit dem Mädchen und den Sternen in Ehren, das du für mich gemalt hast. Ich hätte dir gerne noch gesagt, dass ich stolz darauf bin, deine Enkelin zu sein. Du warst einer der klügsten und interessantesten Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Ich hätte dir gerne noch so viele Fragen gestellt und dir zugehört. Aber die Geschichten, die ich erfahren durfte, die halte ich ganz fest und genauso in Ehren wie das Mädchen mit dem Sternenhimmel und den Ring mit dem großen roten Stein. Ich hab‘ dich lieb. Wir sehen uns im Traumland.“
Dieser Abschied wird für immer ins Leere gehen. Doch erinnert er mich immer wieder daran, was wichtig ist, nicht vor mir herzuschieben. (Jetzt müsste ich mich nur noch stets brav daran halten…) Welchen Abschied habt ihr bislang versäumt? Und was würdet ihr sagen, wenn ihr noch einmal die Chance hättet?
Die Goodbye Line kann man von übrigens nicht nur aus bestimmten Telefonzellen, sondern von jedem Endgerät und von überall auf der Welt erreichen – für einen Anruf aus Deutschland muss man einfach die US-Vorwahl +1 vor die 888-808-8598 vorwählen.


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