Jurek Becker? Ist das nicht der, der Jakob der Lügner geschrieben hat? Genau – und Drehbücher. Der 1937 in Lodz geborene Autor war nämlich auch fürs Fernsehen tätig. So verfasste er 1994 die Fernsehserie „Wir sind auch nur ein Volk“, die noch im selben Jahr mit Manfred Krug verfilmt wurde. Beckers ironischer Blick auf die Zeit des deutsch-deutschen-Kennenlernens fand Jahre später ihren Weg ins Theater. Nun wird das Stück in einer neuen Fassung im Antoniushaus in Regensburg aufgeführt. Und ich war bei der Premiere. Zeit, einmal wieder eine Kritik zu schreiben…
Westautor sucht Ostfamilie
Wir schreiben das Jahr 1994. Vor fünf Jahren ist die Mauer gefallen. Doch nach der ersten Euphorie sind die Probleme nicht mehr unter den Teppich zu kehren. Glücklich in den Armen liegen sich „Ossis“ und „Wessis“ jedenfalls nicht mehr. Aber zum Glück gibt es ja das Fernsehen. Das Fernsehen bringt schließlich die Menschen zusammen. Da liegt es doch auch der Hand, eine Serie über die Wiedervereinigung zu produzieren. Um sich besser kennenzulernen, um endlich zueinander zu finden. Zum guten Gelingen braucht es nur noch einen bekannten Autor, der der Tiefe des Themas gerecht wird. Anton Steinheim (Guido Wachter) wird das schon meistern. Das Problem: Der westdeutsche Schriftsteller Anton Steinheim hatte noch nie Kontakt zu Menschen aus den neuen Bundesländern. Eine ostdeutsche Familie als Studienobjekt soll das richten. Die Wahl fällt auf Familie Grimm. Die Grimms, das sind Benno (Thomas Mehlhorn) und seine Frau Trude (Kathrin Berg), Trudes Vater Karl (Gerhard Hermann) und Sohn Theo (Paul Wiesmann) – und irgendwie auch Theos stetig wechselnden Liebschaften. Benno arbeitete vor dem Mauerfall als Dispatcher – eine Art Verwalter des Mangels. Ein Job, der mit der Wende ausradiert wurde. So ist Benno Dauergast im Arbeitsamt. Trude arbeitet als Lehrerin. Sohn Theo ist ebenfalls auf Jobsuche. Er hat sein Philosophiestudium abgebrochen. Und weil Opa Karl sich die nach der Wiedervereinigung rapide gestiegenen Mieten von seiner mickrigen Rente nicht leisten kann, wohnt auch er bei seiner Tochter und seinem Schwiegersohn. Geld ist also hoch willkommen. Und Geld soll fließen, wenn die Familie dem Autor Steinheim Einblicke in ihr Leben gewährt. Doch der Autor aus dem Westen gewinnt relativ schnell die Erkenntnis, dass die Ostdeutsche Familie zwar ein bisschen verrückt ist, aber nicht verrückter oder anders verrückt als Familien aus dem Westen. So eine Familie könnte man genausogut in Bayern, in Hessen oder dem Saarland finden. Nur die äußeren Umstände sind halt anders. Damit könnte das Stück nun schon zu seiner Haupterkenntnis und seinem Ende kommen. Aber wenn der Autor aus dem Westen einen spannenden Alltag will, der seine Vorurteile bestätigt, dann soll er ihn halt bekommen. So fassen die Grimms den Plan, mehr Material zu liefern. Ein arbeitsloser Schauspieler wird kurzerhand als Stasi-Agent eingespannt, Bennos Schwester, die zu DDR-Zeiten ein Urlauberheim des FDGB leitete, wird herbeizitiert und sogar der einst republikflüchtige Bruder aus dem Westen angekarrt. Mit Eigensinn und Humor konstruieren sich die Grimms selbst als Ostfamilie, die alle Vorurteile übertrifft.
Theater mit Kniff und Kamera
Funktioniert eine Fernsehserie auf der Bühne? Unbedingt. Es muss nur das richtige Bühnenbild her. Auf der Spielfläche im Antoniushaus fand sich eine komplette Wohnung mit Küche, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, Bad, Flur und viel Liebe zum Detail in Ocker, Beige, Braun und Grün. Und Kameras – überall Kameras. Ein bisschen wie bei Big Brother. Im oberen Bereich der Bühne war eine Leinwand angebracht. Auf dieser waren Nahaufnahmen der Gesichter zu sehen, Einblicke ins Hinterzimmer oder auch einmal ein nackter Hintern. Auf diese Weise entstand eine Nähe zu den Charakteren, wie man sie sonst nur von Fernsehen und Kino kennt. Zwischendurch sah man auf der Leinwand auch Filmausschnitte – eine junge Kati Witt strahlt in die Kamera, die Freie Deutsche Jugend singt, DDR-Fabriken schließen und Helmut Kohl schwadroniert von blühenden Landschaften.
Mein Fazit
Das zweifellos großartige Bühnenbild hat besonders gut funktioniert, weil das Ensemble es ganz hervorragend bespielt und aufs schönste zum Leben erweckt hat. Von den Hauptdarstellern bis in die kleinsten Nebenrollen hat die Besetzung ein beeindruckendes Stück Schauspielkunst geliefert – präzise, pointiert und mit spürbarer Lust an der Inszenierung.
Und das Stück an sich? Ich für meinen Teil habe mich großartig unterhalten gefühlt. „Wir sind auch nur ein Volk“ ist eine scharfsinnige Boulevardkomödie vom Feinsten. Nicht mutig, aber zum Nachdenken. Warum aus einer gefallenen Mauer ein tiefer Riss wurde, erklärt das Stück nicht. Am Schluss ein angedeuteter Versuch. Man hätte nicht alles abwickeln müssen und eine neue gemeinsame Nationalhymne wäre ja auch schön gewesen. Mich würde interessieren, wie es bei den Grimms wohl heute aussehen würde – und beim Schriftsteller Steinheim. Wie würde eine Fernsehserie heute eine Annäherung herbeischreiben? Der 1997 verstorbene Jurek Becker kann keine Fortsetzung mehr schreiben. Aber wer weiß, vielleicht übernimmt das einmal jemand anderes.

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